Geschichte

Die Tradition der Burgspiele Jagdberg

Dass die Menschen in Schlins die Initiative zu den Burgspielen kurz nach dem Krieg ergriffen, ist aus meiner Sicht und in Anbetracht der damaligen Zeit allzu verständlich. Die Männer kamen aus „der Welt“ zurück nach Schlins. Sie kamen aber nicht nur aus der „Kriegswelt“, sie kamen vor allem auch zurück aus anderen Kulturen, denen sie in dieser Zeit begegnet waren. Und während ihrer Abwesenheit hatte sich das Dorf verändert. Es hatte sich verändert durch die Tatsache des Krieges, aber auch aufgrund der sich rasch wandelnden politischen Verhältnisse.

plakatfaust1955_medSo fand sich eine Gruppe von Männern und Frauen, unter der Führung von Albert Rauch. Es ging um Austausch und Begegnung. Es ging aber auch stets um ein existenzielles Kulturverständnis, um jenes Kulturverständnis nämlich, das Kultur als Wertpflege sieht.

Um welche Werte kann es gehen, wenn die Menschen zwar Begegnung und Unterhaltung suchen, aber eben nicht nur? Nach meiner Empfindung stellt die Bereitschaft, sich auszutauschen, sich zu zeigen und zu vermitteln, eine wesentliche Triebfeder des Menschen dar ebenso wie die Suche nach Gelegenheiten dafür. Die Menschen wollen Raum haben für sich, für ihre Gedanken, Gefühle, Sorgen und Freuden. Sie wollen Raum für ihre Versuche und Experimente, für ihre Erfahrungen und eben auch Raum für deren Austausch. Sie wollen das Ihrige neben das stellen, was andere sagen. Oder neben das, was in Büchern gesagt wurde oder im Lauf der Geschichte. Aber sie wollen es selber sagen und auch selber tun. Eine ebenso wesentliche Motivation bezieht der Mensch daraus, dass er sich über „die eigene Welt“ hinaus begreifen und gestalten will, beispielsweise über die Welt des eigenen Dorfes hinaus. Dieses über „die eigene Welt“ hinaus Gestalende ist das Wesen der menschlichen Kreativität. Der Begriff der Kreativität, wie wir ihn heute verstehen, geht über das ästhetisch Gestaltete oder das neu Erkannte hinaus. Kreativität bezieht sich auf das Erkennen und Gestalten von etwas Neuem im Sinne eines neuen Zusammenhangs, einer neuen Ordnung. Kreativität bezieht sich also auf das Erfinden, Entdecken und Herstellen von neuen Zusammenhängen.

Der Mensch war immer schon ein „darstellendes Wesen“. Unter diesem Aspekt ist die Bedeutung des Theaters zu sehen und auch die der Literatur sind sie es doch, die ihn befähigen, etwas unmittelbarer und eindringlicher zu sagen, auf dass es die Zuhörerin, den Zuhörer in besonderer Weise anrühre. Ich denke, dass diese Gruppe von Schlinser Frauen und Männern genau vor diesem Hintergrund im Theaterspiel die Möglichkeit zur Entfaltung erkannte.

goggalori197273_medUm die Menschen unter dem Gesichtspunkt der Kultur zu Aktivitäten zu bewesen, ist die Organisation eines Schauspiels die beste Möglichkeit. Und so übte das Theater gerade in der damaligen Zeit – denke ich – eine noch viel größere Anziehungskraft auf die Menschen aus, als diese heute der Fall ist. Und ist es nicht gerade die besondere Authentizität, die im Spiel zutage tritt sowie im Kontext einer Rolle, die das Wesen einer vertrauten Person erst sichtbar zu machen vermag? Das Wesen, das durch die Maske der Rolle hindurch scheint, erlaubt einen Blick auf die tiefste Authentizität einer Person. Dieses Phänomen ist genau das, was die Menschen im Theater berührt, und der berührte Zuseher ist dadurch mitbeteiligt am Schauspiel. Und daraus erwächst einem Dorf die Möglichkeit, eine innere, eine gemeinschaftliche Identität zu finden, welche wiederum die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft fördert und den inneren Zusammenhalt stärkt. Doch damit nicht genug, hat doch jedes Dorf auch eine Identität nach außen, zunächst zu den Nachbargemeinden in weiterer Folge zur Region, zur Talschaft und zum Land. Mittels dieser äußeren Identität werden Werte und Fähigkeiten über die Grenzen getragen, das Dorf zeigt der Welt gleichsam sein Gesicht. Dies ist der Grundgedanke des existenziellen Kulturverständnisses. Durch das Darstellen von seelischem und geistigem Wachstum wird die Landschaft für die Erhaltung des Lebens gestaltet und genutzt. Das eigene Dorf in seiner Besonderheit zu erkennen und dazustellen, gehörte schon immer zu den tief empfundenen Bedürfnissen einer Dorfgemeinschaft. Einzigartig wird ein Dorf aber vor allem durch das, was der Mensch tut und hervorbringt. In diesem Sinne hat das Dorf Schlins durch die Spiele auf dem Jagdberg seine Einzigartigkeit und Unverwechselbarkeit weit über di Region hinaus erlangt.

nachfolge-christispiel1959_medAls Kinder haben wir alles nachgespielt, was die „Großen“ in der Burg spielten. Gerold Amann spielte aber auch in Schnifis Theater. Da das Spiel der Erwachsenen für uns Kinder jedoch undurchschaubar war, nahmen wir Anregungen daraus und gestalteten unsere eigenen Stücke. Das bedeutet, wir übernahmen die Kultur des Spielens. Gemeinsam mit Gerold Amann haben wir dann den Anspruch an uns selbst entwickelt und nur durch ihn haben wir wohl erst den Mut aufgebracht -, um Eigenes und noch nie Dagewesenes, also eine neue Art von Musiktheater zu schaffen. Erst im Rückblick erkenne ich heute, dass wir mit unseren Spielen der Zeit voraus waren. Dadurch ist es uns gelungen, Mitspieler aus dem ganzen Land anzusprechen und zu begeistern.

Viele Städte und viele Orte verfügen über Kulturplätze. Diese Plätze haben stets eines gemeinsam: sie vermögen es, die Menschen aus der Gleichförmigkeit des Alltags in die Stimmung des Erstaunens zu entrücken. Die Burgruine Jagdberg ist ein solcher Ort. Das Betreten dieser mittelalterlichen Anlage ist immer ein Erlebnis besonderer Tiefe, es ist eine staunende Konfrontation mit dem Archaischen. Der Betrachter versinkt in die Vorstellung, wie hier gelebt wurde und wird dadurch seines innersten Geschichts- und Kulturverständnisses gewahr. Viele, die an den Spielen beteiligt waren, haben immer wieder auf diese mystische Stimmung in der Burgruine hingewiesen. Und so beruhte der Erfolgt der Spiele – wohl ebenso wie auch deren Kunst – auf der lebendigen Miteinbeziehung der besonderen Atmosphäre dieses Ortes in die Spiele selbst.

Das Geheimnis für die Begeisterung, die die Burgfestspiele rundum auslösten, glaube ich in diesem Einklang zu erkennen. Dem Einklang wischen dem erlebbaren Raum und der Natur und den Menschen, die diesen Raum – heute wie in längst vergangenen Zeiten – kulturell gestaltet haben.

(Johannes Rauch, In: Spiele auf der Burg, 60 Jahre Spielgemeinde Schlins, 2009)