Formicula [2003]

Ameisen besiedeln die Burgruine Jagdberg

„Formicula“ – ein Klangtheater von Gerold Amann und Gerald Futscher

Formicula4

Die Tradition großer Theateraufführungen in der Ruine Jagdberg wird seit Jahrzehnten gepflegt. Während in den Anfängen auch Klassiker geboten wurden, etablierte Gerold Amann unter anderem mit „Goggalori“, „Spektakel“ oder „Apokalypse“ groß angelegte Burgspiele mit innovativem musikalischem Charakter. Im kommenden Sommer besiedeln Ameisen die Burg und verwandeln diese in ein Klangtheater.

Gerold Amann und Gerald Futscher realisierten in einer Gemeinschaftsarbeit mit etwa hundertzwanzig Mitwirkenden das Klangtheaterstück „Formicula – Ameisenstaaten“. Darin lag eine besondere Spannung, denn die musikalischen und kompositorischen Denkwelten von Gerald Futscher und Gerold Amann gingen bislang in unterschiedliche Richtungen. Schon längere Zeit planten die beiden jedoch irgend eine Form der Zusammenarbeit. So kam Gerald Futscher die Mitarbeit am „Ameisenprojekt“, bei dem das gesamte Instrumentarium selbst entwickelt worden ist, sehr gelegen.

Hilfsameisen, Amazonenameisen und blutrote Waldameisen …

Das Konzept des Musiktheaters von Gerold Amann und Gerold Futscher mutet einfach an, es ist jedoch vielschichtig angelegt. Exakt nach den Vorgängen, die auch in der Natur so vonstatten gehen können, konzipierte Gerold Amann quasi ein „Bio-Libretto“. Darin werden drei Ameisenarten charakterisiert. „Die Hilfsameise ist dazu bestimmt, Sklavendienste in anderen Stämmen zu machen. Die Amazonenameisen sind weitgehend Räuberinnen, sie rauben vor allem die Brut, lassen aber die ausgewachsenen Tiere in Ruhe. Eine perfekte Kriegsmaschinerie hat die blutrote Waldameise. Ihr geht es um den Reviergewinn, die Ausrottung, Raub und Mord. Alles was den blutroten Waldameisen in den Weg kommt, wird ausgerottet“, erzählt Gerold Amann. Das Publikum wird Zeuge von verschiedenen Szenen aus einem Ameisenbau, die von einem skurrilen Naturwissenschafter kommentiert werden.

… alles wird Klang …

Kein einziges herkömmliches Instrument dient als Klang- und Rhythmuserzeuger in dieser unkonventionellen Produktion. Viel mehr wurden Harfeninstrumente, Klangstäbe und Rüsselinstrumente, beispielsweise Hopser, Fühler, Schilde, Vögel, Dreispitz und die Klappsmühle als Phantasieinstrumente für unterschiedlichste Soundarten entworfen und gebaut. Es ist eine wichtige Intention der Komponisten, das gesamte Werk nicht als Geräuschmusik zu konzipieren. Melodische Passagen sind ebenso vertreten wie rhythmische Muster, die von den Mitwirkenden in Ensembles gestaltet werden. „Der Bühnenboden wirkt als Resonanzraum und hat zugleich klangliche Funktionen, denn es wird alles mehrfach verwendet. Das gilt für den gesamten Aufbau, jede Wand und jede Tür. Alles was für die Handlung benötigt wird, Stroh- und Grashalme und vieles mehr ist gleichzeitig auch Klangerzeuger „, erklärt Gerald Futscher.

… Zusammenarbeit mit großen Firmen …

Formicula2003

Seit etwa zwei Jahren arbeiten die Komponisten Gerold Amann und Gerald Futscher und die Organisatoren der Spielgemeinde Schlins  an der Konzeption von „Formicula“. Ein wichtiger Grundgedanke dieses Großereignisses ist auch die Zusammenarbeit mit Vorarlberger Firmen und deren Lehrlingsausbildungsstätten sowie StudentInnen der Fachhochschule Dornbirn. In vielen Kontakten und Gesprächen gewannen die Organisatoren zahlreiche Firmen zur Zusammenarbeit. Lehrlinge der Firmen Zumtobel, VKW und Illwerke, Buderus Guss, Liebherr, Hilti, Erne und Jugend am Werk sind nun auch als Instrumentenbauer tätig. Darin ist einesteils eine außergewöhnliche Form des Kunstsponsorings zu sehen, andernteils finden die Jugendlichen aber auch einen besonderen Zugang zur Kultur.

Etwa dreißig StudentInnen der Studienrichtung „Intermedia“ der Fachhochschule Dornbirn schufen Werbespots, die zwischen die Szenenfolge des Klangtheaterstückes geschaltet werden. Die Clips sollen „möglichst unterhaltend und zynisch sein“, war der Anspruch von Gerold Amann. „Denn die Leute unterhalten sich dann gut, wenn sie lachen können oder sich ärgern. Die erste Möglichkeit ist die bessere, aber die zweite ist die nötigere.“

… hoher künstlerischer Anspruch …

Für die Regie zeichnet die sehr erfolgreiche Regisseurin Brigitta Soraperra verantwortlich. In enger Zusammenarbeit mit der Choreographin und Tänzerin Ursula Sabatin wurden die Ameisenarten charakterisiert und die Bühne als Klangmaschine konzipiert. „‚Formicula‘ ist einzigartig in der Geschichte der Burgspiele Jagdberg“, erläutert Brigitta Soraperra ihre Anreize bei diesem „Experiment“ Regie zu führen. „Erstmals steht nicht ein Chor im Mittelpunkt, der sowohl den inhaltlichen als auch formalen Rahmen bildet, sondern die Mitwirkenden bilden eine Art Klangmaschine, ein sehr unkonventionelles Orchester, mit dem die Komponisten aus selbst gebauten Instrumenten und Schallerzeugern eine Geräuschkulisse erarbeiten, die wiederum das musikalische Herzstück der Inszenierung darstellt. Auch die Bühne und das Bühnenbild erfüllen neben ästhetischen zahlreiche musikalische Anforderungen und werden zu einem überdimensionalen Klangkörper. Insofern gibt es bei diesem Projekt eine ungewöhnlich intensive Zusammenarbeit zwischen Musik, Bühne, und Choreographie, die wiederum in Kombination mit dem dramaturgischen Verlauf (Geschehnisse aus der Ameisenwel) die Inszenierung ausmachen.  Es handelt sich also um eine sehr reizvolle Aufgabe, bei diesem ‚Experiment‘ – und als solches ist es durchaus zu sehen –  Regie zu führen. Wichtig ist allen beteiligten KünstlerInnen die Verfolgung hoher künstlerischer Ansprüche, es geht also keinesfalls z.B. darum, eine Art Biene Maya auf der Ruine umzusetzen, sondern die erzeugten ästhetischen (Bühne, Kostüme) und szenischen Bilder (Regie, Choreographie) bewegen sich auf einem Abstraktionsniveau, das viele Assoziationen ermöglicht und im gelungenen Fall eine kongeniale Ergänzung zur unkonventionellen Musik  bildet.“

… ein akustisches und ästhetisches Vergnügen …

Formicula3

Selbstverständlich benötigt ein derart vielfältiges Klangereignis eine genaue Choreographie und ein Regiekonzept, das die Bewegungsverläufe genau umsetzt, denn die Musik entsteht durch die Beschreibung der Bewegungen sämtlicher Akteure. Ursula Sabatin orientiert ihre choreographischen Grundgedanken an der Handhabung der Instrumente und an den besonderen Anforderungen von Freilichtspielen auf der Burgruine Jagdberg. “ Die Bedienung der Instrumente führt,  da es sich um keine gängigen Instrumente handelt, zu einem relativ konkreten Bewegungsmaterial. Die Choreographie greift dieses ‚Material‘ auf, verfeinert es, adaptiert es und setzt es in die durch die Handlung vorgegebenen szenischen Abläufe ein. In der Umsetzung auf der Ruine werden zusätzlich die räumlichen Anforderungen und Möglichkeiten in die Choreographie miteinbezogen. Wege und Gänge werden in Bewegungsabläufe umgesetzt, die nicht nur ein akustisches sondern auch ein ästhetisches Vergnügen bereiten sollen. Eine weitere Quelle für die Choreographie bilden die biologischen Abläufe und die charakteristischen Bewegungen und Handlungen von Ameisen in der freien Natur. Diese wiederum werden in den musikalischen Proben zur Erarbeitung von spezifischen Rhythmen aufgegriffen. Es handelt sich also um eine bereichernde Wechselwirkung zwischen Tanz und Musik. Es wird Klangwege geben. Jeder Ameisenart ist eine spezifische Klangfarbe zugeordnet, so werden zum Beispiel die Amazonen, denen Holz zugeordnet ist, sich auf Holzwegen in der Ruine bewegen, und die Waldameisen auf Metallwegen. Die Tribüne wird auch bespielt, weil ihre Konstruktion eine interessante Geräuschkulisse ermöglicht und gleichzeitig das Publikum „hautnah“ miteinbezogen wird.“

Formicula1

Den besonderen Reiz und die Herausforderung sieht die Tänzerin und Choreographin in dem engen, sich gegenseitig bedingenden Wechselspiel, das zwischen der Musik und dem Tanz entsteht. „Die Zusammenarbeit mit der Musik und in diesem Fall mit den Klängen erfolgt absolut dialogisch, wie es im Tanz immer seltener vorkommt, am ehesten noch in der Improvisation. Bei „Formicula“ gibt es zwar starke musikalische Vorgaben, dennoch kann die Bewegung auch Einfluss nehmen auf Klänge und Rhythmen. Die Entwicklung und Darstellung passiert wechselwirkend , der Tanz reagiert auf die musikalischen und räumlichen Vorgaben und umgekehrt, fügt sich also in die Klangmaschine ein.“

Silvia Thurner