Goggalori [1973 + 1974]

Es ist noch gar nicht lange her, da…

Gerold Amann

Auf ein hohles Faß schlagen, einen Stock in die Speichen eines kreisenden Wagenrades halten, mit einem Grashalm schnarren, ein Blasinstrument aus Weidenrinden herstellen und darauf spielen können, ein schreckenerregendes Kürbisgesicht anfertigen, auf einer Wassertrillerpfeife spielen,… gehörte früher zu jenen Fertigkeiten, auf die sich jedes Kind auf dem Landes verstand. Daran hat sich in den letzten Jahrzehnten eingiges geändert. Auch der spielerische Ausdruck der Erwachsenen hat neue Formen angenommen: Welcher Maurer schlägt heute noch mit seiner Kelle einen „Marsch“ auf dem Mörteltrob? Welcher Unterhalter möchte heute noch auf einem Heimatabend sein Publikum begeistern, indem er gleichzeitig auf einer Mundharmonika spielt, mit Kochlöffel und Besen den Rhythmus schlägt und dazu tanzt? Welcher Jäger kann in unseren Tagen noch ohne ein Hilfsmittel die Stimmen von Kauz und Taube, Auerhahn oder Fuchs nachahmen? Welcher Bauer versteht sich heute noch aufs Peitschen knallen? Menscher Leser wird meiner Behauptung zustimmen: Heute gibt es das kaum mehr, aber es ist noch gar nicht lange her, da gehörten derlei Dinge zu unserem Alltag.

goggalori1_med   … da war der Auszählreim unter den Kindern noch gang und gäbe: „Empempinus
sageragedinus
sagerage
tiketake
empempus
und du bist duß (= draußen).“

… da sang man noch – ohne an die Pfege des Volksliedes zu denken – „Gibele, Gäbele, Rechazah(n) …“ oder das Lied vom „Dengelema(nn)“,

… da hörte man in unseren Bergen vielerlei Juchzer und im Tal konnte man Tag für Tag Viehherden begegnen, die von urtümlich johlenden Hirten vorangetrieben wurden,

… da erzählte man noch gerne vom Nachtvolk, von geisternden Menschen und Tieren, vom „Künden“, von Hexerei und zauberischen Kräften – und glaubte auch daran.

Wir sind „modern“ geworden. Wir glauben die Geschichten von „bannenden“ Landstreichern nicht mehr, denn wir wissen, aß es sich dabei um Hypnose handelte. Für uns ist das Auftreten von „fliegenden Untertassen“ glaubwürdiger geworden als der Zug des Nachtvolkes. Wir glauben an die Wissenschaft. Produkte der Phantasie haben für uns keinen Wirklichkeitswert und keinerlei Beweiskraft. Wie gesagt, wir sind „modern“ geworden.

Technik und Industrialisierung haben die Kraft unserer Muskeln ungeheuerlich vergrößert. Die Massenmedien haben die Reichweite unserer Sinnesorgane vertausendfacht. Dies brachte uns Weitblick und Wohlstand. Doch unsere technischen Zaubermuskeln sind tückisch und unsere magischen Augen unscharf. Neue Schreckgespenster und Zerrbilder beschäftigen als Folge davon unsere Phantasie. Entwurzelung, Sinnlosigkeit…

Im Spiel „Goggalori“ wird die alte Denkweise dargestellt, um an ihr das gewaltige Ausmaß der Veränderung, die sich in unserem Land innerhalb kurzer Zeit vollzog, deutlich zu machen; denn es ist noch nicht lange her, da…

Szenenabfolge

Im Spiel „Goggalori“ wird versucht, anhand lebendiger Restbestände der Volkskunst und des Brauchtums unter Einbeziehung der Natur den Alltag und die Phantasie im alten Vorarlberg in einer losen Bilderfolge möglichst wirklichkeitsgetreu nachzuzeichnen.

I Bläservorspiel

In dieser „Ouvertüre“ kehrt die zu Beginn gespielte volkstümliche Melodie in teils stark verzerrter Gestalt immer wieder.

II Kinderalltag: Lieder-Spiele-Streit

Das Leben der Kinder ist seit jeher erfüllt von eigenwilliger Phantasie. Ihre Kunst hat daher einen besonderen Reiz.

III Der Mesner sieht den Tod

Die Urangst des Menschen, sterben zu müssen, findet in dieser Sage Ausdruck. Das Rosenkranzgebet eignet sich auf Grund seiner mystischen Wirkung besonders als musikalische Grundlage zur Darstellung dieses Sagenberichtes.

IV Sprachmelodie: Na (Nein) – Moll (Ja)

Die Unmittelbarkeit der Umgangssprache führt oft zu verblüffend ausgeprägten melodischen Gestalten. Diese Szene bringt ein Beispiel dafür.

V Das Nachtvolk zieht vorbei

Dieses ruhelose groteske Volk anonymer Toter ist uralten Vorstellung vom leben nach dem Tod entsprungen. Es wurde versucht, die bei alten Leuten gelegentlich sehr lebhafte und deutliche Vorstellung von der „Musik“ des Nachtvolkes nachzuzeichnen.

VI Viehtrieb

Das „Hoien“ des Bauern, eingebettet in den Klang von Kuhglocken, kontrastiert zur weichlichen Musik („Wie’s die Blümlein“) der Flügelhörner. Ursprüngliches Musizieren und billiger Abklatsch stehen wie Lüge und Wahrheit im Alltag oft untrennbar nebeneinander.

VII Die Braut ist eine Hexe

Die Hexe, Verkörperung weiblicher Verdorbenheit, wurde gemieden. Kein auch noch so harmlos erscheinendes weibliches Wesen war nach der Sage des Verdachtes enthoben, doch insgeheim mit dem Teufel im Bund zu stehen.

VIII Volkslied „Der Dengelema(nn)“

IX Fluchen erzürnt das Weiblein

Das „Katzensteigweiblein“, ein an sich gutmütiges Sagenwesen, duldet gröbsten Spott, nur den Fluchenden straft es.

X Pantomime: Birkhahnbalz

Der in unseren Breiten immer seltener werdende Birkhahn bevölkerte früher die höher gelegenen Wälder in großer Zahl. Sein Balzzeremoniell – hier pantomimisch dargestellt – zeigt deutliche Verwandtschaft zum „Schuhplattler“.

XI Porträt: Der Wicht

Anhand überlieferter Sprüche und Lieder, wird das Bild eines Wichtleins entworfen.

XII Ein Toter findet keine Ruhe

Zahlreiche Vergeltungssagen zeugen von der hohen Wertschätzung des Volkes von Recht und Gerechtigkeit. Besonders schrecklich aber ist nach der Sage die Strafe für den, der Unrecht an einem Mitmenschen, der arm ist, begeht.

XIII Couplet „Der Scherenschleifer“

Das alte Gewerbe des Scherenschleifers hat längst andere Formen angenommen. Ein Lied aus Vorarlberg zeugt noch von der Tätigkeit früherer Scherenschleifer

XIV Der Spötter muß tanzen

Heutzutage würde man die Fähigkeit zu „bannen“ von der diese Sage handelt, mit „Hypnotisieren“ bezeichnen. Die Begriffe haben sich gewandelt, die Tatbestände nicht!

XV Spachmelodie: Na – Moll

XVI Ave Maria

Die Verehrung der Gottesmutter fand verschiedenartigen Ausdruck: Der „Englische Gruß“ ist eine alte liturgische form. Der „Alpsegen“ aus Gamperdona zeigt eine volkstümliche Variante dazu. Für die Kinder bringt das „Ave Maria“ oft noch ein besonderes Problem (sie werden nach Hause geschickt)

XVII Das Nachtvolk zieht vorbei

Nur werde die Gewohnheiten des Nachtvolkes kannte, konnte es ungestraft beobachten oder von Strafe erlöst werden. Der mit einem Beilhieb „Gemarkte“ wird von seinem Leiden erlöst, weil er sich zur rechten Zeit und am rechten Ort dem Nachtvolk stellte.

XVIII Abgesang

Erinnerungen an Goggalori und Spektakel

Anton Reitzenstein

Meine Erinnerungen an die beiden Aufführungen von „Goggalori“ und „Spektakel“ können nur subjektiv sein. Sie liegen 30 bzw. 35 Jahre zurück und geben vielleicht ein verklärendes Bild. So sehe ich es nun einmal. Möglicherweise kommt auch das Wort „ich“ etwas zu oft vor, aber das liegt in der Natur des Erinnerns. Es ist natürlich schöner, einen Erfolg zu erklären als einen Misserfolg, daher liegt es mir am Herzen, mit meinen Worten einige kleine Denkmäler zu errichten, denn das Gelingen eines solchen Unternehmens hat mehrere Mütter und Väter. Doch nun zum Anfang: In der 7. Klasse des Bludenzer Gymnasiums bekamen wir einen neuen, noch jungen Lehrer für Psychologie und Philosophie, andere Glückliche (zu denen ich nicht gehörte) hatten auch Musikunterricht bei ihm Dieser Lehrer hatte die Gabe, freundschaftlich, kameradschaftlich und temperamentvoll mit seinen Schülerinnen und Schülern umzugehen, ohne die nötige Autorität zu verlieren. Dieser Lehrer war Gerold Amann.

goggalori2_medNach der Matura absolvierte ich meinen Militärdienst und hatte darauf das Glück, die Aufnahmeprüfung in die Regieklasse des Wiener Reinhardt-Seminars zu schaffen und nach vier Jahren auch abzuschließen. In dieser Zeit hatte ich vor allem in den Freien Gelegenheit als Sprecher und Regisseur von Rundfunksendungen im Landesstudio Vorarlberg zu arbeiten. Es waren damals insbesondere Leonhard Paulmichl, und Ekkehart Marte, denen die Nachwuchsförderung ein echtes Anliegen war. So fanden dort zum Beispiel auch Michael Köhlmeier und Reinhold Bilgeri ihre ersten medialen Ausdrucksmöglichkeiten. Im herbst 1971 ging ich nach der Abschlussprüfung vom Reinhardt-Seminar zum ORF-Fernsehen in Wien. Damals in der Ära von Gerd Bacher, befand sich der österreichische Rundfunk in einer echten Aufbruchsstimmung. Der freundschaftliche Kontakt zu meinem ehemaligen Lehrer Gerold Amann ist in dieser Zeit nie völlig abgerissen. Irgendwann im Jahr 1972 bekam ich einen Anruf von ihm, ob ich mir vorstellen könnte, mit ihm auf der Ruine Jagdberg ein musikalisches Spiel mit Laien zur Aufführung zu bringen. Einem Knaben meiner Generation war der Jagdberg ein Ort des mythologischen Schreckens. Allein der Hinweis „Wenn Du nicht brav bist, kommst du auf den Jagdberg“, hat oft eine Verhaltensänderung ins Brave bewirkt. Gemeint war natürlich die dort ansässige Landeserziehungsanstalt. Eine gewisse Abenteuerlust, Unbekümmertheit, aber auch das Vertrauen zu Gerold verführten mich zu einer Zusage. So kam auf ich auf den Jagdberg, habe es jedoch keine Sekunde lang bereut. Dann allerdings begann eine Phase, von der ich wenig weiß, die aber einigermaßen mühselig gewesen sein muss: Das Suchen und Aussuchen von Mitwirkenden, Überzeugungsarbeit, Terminprobleme, die Erstellung eines Budgets, die technische Aufrüstung der Burg und das Erstellen von Tribünen. Es war eine Zeit der Ungewissheit und ich musste mich langsam um meine Termine des Sommers 1973 kümmern. So kam ein Team, darunter Gerold amann und Bürgermeister Elmar Kalb, zu Ostern 1973 zu mir nach Wien und in einer intensiven Arbeitssitzung wurde beschlossen: Wir ziehen das durch!

goggalori3_medJohannes Rauch hatte eine seltsam archaisch anmutende Bühne gebaut, die aber wunderbar zum Grundgedanken von „Goggalori“ gepasst hat. In diesem Stück ging es nämlich um das Wiedererwecken von Klangwelten, die schon versunken oder gerade im Versinken begriffen waren. Dass Gerold dazu Menschen gefunden hat, die dies aus eigenem Erleben glaubwürdig darstellen konnten, war ein großer Teil des Erfolges. Die Bühne von Johannes hatte auch eine kluge Raumgliederung mit kleinen Nebenschauplätzen, sodass sich gute Bewegungsmöglichkeiten im Spiel ergeben konnten. Das Stück hatte ja keine Handlung im eigentlichen Sinn, sondern einen unsichtbaren roten Faden, den sichtbar zu machen unsere Aufgabe war.

Dann begann die eigentliche Probenarbeit. Gerold hatte schon einige Zeit vorher mit den musikalischen Proben begonnen, denn die Zeit war knapp, waren doch die meisten Mitwirkenden berufstätig. Was ich hier sag und hörte, hat mich völlig verblüfft. Mir war sofort klar, hier wurde ich wieder zum Lernenden. Denn die Begeisterungsfähigkeit und Kompetenz, mit der Gerold aus der Musik heraus Gestus und Bewegung entwickelte, war großartig. Ich konnte ihn nur unterstützen und so meine Aufgabe darin, aus den vielen kleinen Details ein Gesamtbild zu formen. Einerseits kam ich aufgrund meiner Ausbildung und Berufausübung von außen, andererseits wuchsen wir in kurzer Zeit zu einer großen Familie zusammen.

„Alle großen Unternehmungen haben ihre Krisen“, sagt Bert Brecht in seinem Singspiel „Mahagonny“. Und so war es auch bei uns. Im Laufe der Probenarbeiten stellten sich nämlich Zweifel und Selbstzweifel ein, in dieser Hinsicht sind sich die Laien und die so genannten Profis sehr ähnlich. Wird das, was wir hier machen, sein Publikum finden? Wird es den Leuten gefallen? Die Proben mussten wetterbedingt des Öfteren ausfallen oder in den Saal verlegt werden, alles nicht stimmungsfördernd. Da erschien in einer Vorarlberger Tageszeitung ein sehr positiver Artikel über die Probenarbeit auf dem Jagdberg, der Autor war Wolfgang Burtscher. Ich kann ihm rückblickend nicht genug danken, denn er hat uns allen Mut gemacht und damit Einiges zum Gelingen unserer Unternehmung beigetragen.

goggalori4_medInzwischen hatten auch Gespräche über eine Fernsehaufzeichnung stattgefunden. Ekkehart Marte hat seine guten Beziehungen zur Wiener Zentrale aktiviert und fand im Herstellungsleiter Franz Baumann einen überaus verständnisvollen und einflussreichen Partner. Ein Redakteur der Wiener ORF-Musikabteilung hat sich eine Aufführung von „Goggalori“ angeschaut und fand sie aufzeichnungswürdig. Die Landesstudios waren damals personell und technisch noch nicht so ausgestattet wie heut, die so genannte Kleinelektronik steckte noch in den Kinderschuhen und so blieb nur ein großer Übertragungswagen als Aufzeichnungsmöglichkeit. Das wiederum hatte für den ORF beträchtliche finanzielle, logistische und terminliche Probleme zur Folge. Franz Baumann hat sie mit der ihm eigenen Kreativität gelöst und es wurde eine Aufzeichnung für den Sommer 1974 beschlossen.

Die Wiederaufnahme von „Goggalori“ ging problemlos und ohne große Umbesetzungen über die Bühne, die allermeisten Mitwirkenden waren wieder bereits, Freizeit und Urlaube zu opfern. Auch die Fernsehaufzeichnung verlief nach Plan. Es war für mich rührend zu sehen, wie Kameraleute und Techniker, die sich in Fußballstadien und den heiligen Stätten der österreichischen Hochkultur gleichermaßen gut auskennen, vom „genius loci“ des Jagdbergs gefangen genommen wurden. Noch Jahre später wurde ich von der Technikercrew auf die schöne Zeit in Schlins angesprochen.

Das oben Gesagte gilt zum allergrößten Teil auch für „Spektakel“. Für mich grenzt es an ein Wunder, dass eine Gemeinde, eine Region sich nach nur drei Jahren Pause aufrafft und erneute ein Spiel mit vielen Mitwirkenden und einer einigermaßen komplizierten Technik ermöglicht. Die Probenarbeit wurde maßgeblich von Harald Hronek unterstützt. Er war nicht nur Koordinator, Bühnenarbeiter, Regieassistent und Produktionsleiter, sondern auch der gute Hirte, der mit milder Strenge seine Herde umkreist und zusammenhält.

Wir haben uns als zentrales Bühnenbildelement eine große mit vielen Glühbirnen bestückte Wand einfallen lassen, die das Fernsehzeitalter symbolisieren sollte. Jede Birne musste eigens verdrahtet werden, man konnte dadurch mit Hilfe von Schablonen Kontakte herstellen und ungefähr 20 verschiedene Lichtstimmungen, Texte und Bilder erzeugen. Die moderne elektronische Steuerungstechnik stand uns damals leider noch nicht zur Verfügung. Auch waren die Anforderungen für Beleuchtung und Beschallung für die damaligen Verhältnisse enorm.

„Spektakel“ ist (wie ich glaube) nicht so tief im kollektiven Bewusstsein unserer Region verankert wie „Goggalori“. Das finde ich schade, denn für mich gehören beide Produktionen thematisch untrennbar zueinander. Das Thema bei „Goggalori“ war das Aufspüren versinkender Klangwelten und Lebensweisen, bei „Spektakel“ war es die Gegenwart und ihr Lebensausdruck.

Die für uns günstigen personellen Konstellationen im ORF hatten sich damals noch nicht geändert, so war im Jahr 1978 wieder ein Fernsehraufzeichnung möglich. Einige Jahre später hat sich die Medienlandschaft stark gewandelt. Das Aufkommen des Privatfernsehens hat auch auf das öffentlich-rechtliche Fernsehen einen gewissen Kommerzialisierungsdruck ausgeübt. Aufzeichnungen von „Spektakel“ und „Goggalori“ wären danach nicht mehr möglich gewesen und so erzählen diese beiden Produktionen gewissermaßen auch von einer versinkenden Medienkultur.

Ich habe seit damals eine Unzahl von Fernsehspiele, Fernsehfilmen, Kulturdokumentationen, Opernübertragungen und Übertragungen von Kulturevents gemacht, und trotzdem liegen „Goggalori“ und „Spektakel“ ganz oben auf meiner persönlichen Beliebtheitsskala, denn die Begeisterung, die Ehrlichkeit und das Können von allen Beteiligten sind nicht alltäglich. Ich bedanke mich dafür.

In: Spiele auf der Burg. 60 Jahre Spielgemeinde Schlins. Schlinsdokumentation 1, Schlins 2009, S. 91f.