Apokalypse [1990 + 1992]

Gedanken zur Inszenierung des Musiktheaters Apokalypse

Die ‚Offenbarung‘ hat ihren Stellenwert in der Heilsgeschichte – ausgehend von der Erschaf¬fung der Erde bis zum Endziel des schöpferischen Planes. Sie besitzt aber gleichzeitig einen großen mythischen Gehalt. Es spricht für die Qualität der ‚Offenbarung des Johannes‘, dass viel Freiraum für verschiedenartige Interpretationen und Sichtweisen zur Verfügung steht. Die verschiedenen Möglichkeiten das Werk zu deuten, inspirierten seit der Entstehung der ‚Offenbarung‘ am Ende des ersten Jahrhunderts nach Christus viele Gelehrte und Künstler, die einen folgten religiös-moralischen Beweggründen, die anderen waren künstlerisch interpretatorisch motiviert.

Apokalypse1989 begann sich Gerold Amann mit der ‚Offenbarung‘ zu beschäftigen. Ihn interessierte dabei weniger der religiöse Gehalt, als vielmehr die mythologische Hülle, die ihm geeignet erschien, seine kompositorischen Ideen zu verwirklichen. Amann war auf der Suche nach einem Sujet, in dem ein dualistisches Nebeneinander vorherrscht – quasi zwei Gruppen von Akteuren, die sich gegenüberstehen. Was schien da geeigneter als die inhaltliche Ausein¬¬andersetzung mit der ‚Offenbarung des Johannes‘, wo die Urbilder des Guten und Bösen, der göttlichen Sphäre auf der einen Seite, und des satanischen Widersachers auf der anderen Seite, einander gegenüberstehen?

Die verschiedenen Sichtweisen und Interpretationsansätze, welche die ‚Offenbarung‘ er¬öffnet, werden bereits im Programmheft „Und die Hoffnung lebt…“ APOLKALYPSE, anlässlich der Aufführung 1992, angesprochen.

Der Regisseur Augustin Jagg nimmt Bezug auf die matriarchale Kultur. Er identifiziert unsere patriarchale Gesellschaftsform mit dem Drachen, der das Matriarchat abgelöst hat. Seine Art der mythologischen Deutung stand dann auch im Vordergrund der Aufführung in der Ruine Jagdberg. Augustin Jagg schreibt zur Inszenierung: „In geradezu paranoiden Visionen erfahren wir den Kampf der göttlichen und satanischen Kräfte in einem dualistischen System der Guten und der Bösen, wie sie sich schnell zu dem erwarteten Ende steigern… Die Geschichte ist klar… In der Apokalypse schließen sich zwei Prinzipien gegenseitig aus: Entweder Gut oder Böse. Einsichtige Möglichkeiten einer Zusammenführung sind nicht gegeben. Der kriegerische Konflikt hat nur ein Ziel – Sieg oder Niederlage. Welches der beiden Systeme erweist sich als das Mächtigere?

ApokalypseMenschensohn1990:92Einerseits die Sonnenfrau, für mich eng verwandt mit der ‚Großen Göttin‘ des vorgeschichtlichen Europas, als es noch keine männlichen Gottheiten gab. Andererseits der herein brechende Drache, der das Urmysterium der Mutterschaft bedroht und zu zerstören sucht: vergleichbar den barbarischen Indoeuropäern, die ins matriarchalische Griechenland eindrangen und sukzessive das patriarchalische System  durchsetzten.

Die Frage nach dem mächtigeren Prinzip stellt sich uns heute nicht mehr. Wir, der Drache, sind diese Gesellschaftsform.“

Brigitta Soraperra stellt die Apokalypse in das Spannungsverhältnis zwischen den Fragen nach dem menschlichen Sein und dem Bewusstsein des unausweichlichen Todes. Ihre philosophischen Überlegungen sind eng mit politischen und/oder religiösen Ideologien verbunden. „Die Apokalypse verliert nicht den zu allen Zeiten bedeutenden Aspekt, Spielball des menschlichen Geistes zu sein. Gerade aus dem ihr seit den Anfängen eigenen Doppelcharakter ergibt sich die Nützlichkeit UND Gefährlichkeit apokalyptischer Schriften, denn das Spiel mit der Apokalypse ist immer auch ein Spiel mit der Angst der Menschen. Nur allzu leicht lässt sich deren Furcht vor dieser Welt, vor der gefallenen oder der verfehlten Schöpfung, vor den apokalyptischen Reitern Hunger, Krankheit, Krieg und Tod für politische und/oder religiöse Machtzwecke missbrauchen und macht, durch die Sehnsucht der Menschen nach Frieden, sie manipulierbar durch friedensverheißende Ideologien.“

Mit der ‚apokalyptischen‘ Umkehrung von Hölderlins Satz: „Wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch“, der dann lauten müsste: „Wo Rettung naht, wächst auch die Gefahr“ streicht Soraperra die nicht zu unterschätzende Gefahr der politischen Ausnutzung des Sujets heraus. „Die Apokalypse fällt einerseits ein Urteil über die geschichtliche Welt, gerade auch über aktuelle politische und gesellschaftliche Verhältnisse – die Einfassung dieses Urteils in ahistorische, mythische, naturhafte Bilder bringt dessen unbedingte, allumfassende Bedeutung deutlich zum Ausdruck…“

Nach dem gesellschaftskritischen Ansatz von Augustin Jagg und der politisch orientierten Sichtweise von Brigitta Soraperra, spricht Johannes Rauch einen psychoanalytischen Aspekt der Apokalypse an. Er geht bei der Bühnengestaltung direkt von der bilderreichen Originalquelle aus.

ApokalypseMassenszeneJohannes Rauch schreibt: „Ich sehe im Spiel der Apokalypse die Auseinandersetzung von Mächtigem und von Genauem. Über dem Bruchstrich ist das Genaue als das Bewusste, das Gewollte, das Zielstrebige. Unter dem Bruchstrich ist das Mächtige als das Prägende, als das Unbewusste. Das Mächtige im Bild ist unser Spielraum, der aus Erde und Himmel besteht. Mächtig und prägend für den Ort ist die steinerne Mauer mit den unregelmäßigen Öffnungen, dem Gras und den Pflanzen in ihr und dem wiesenhaften Boden. In dieses Mächtige bauen wir das Genaue. Am Boden ist die quadratische Spielebene. Eine palastartige Stiege führt zur höherliegenden Brücke, die den Norden und Süden verbindet. Tempelhaft verbindet eine Stiege die Brücke mit dem hohen Fenster der Göttin in der Mauer, kehrt und zeigt über die Burg hin¬aus in den Himmel. Die dominierende geometrische Form in unserem Bild ist das Quadrat. Es ist ein Zeichen für das geistig Abstrakte. Das Quadrat zeigt aber auch die Grenzen unseres Sichtfeldes für das Unbewusste, das Mächtige. Es ist ein Zeichen Babylons.“

Silvia Thurner, 1992.